Jauchzet frohlocket: Branding mit Johann Sebastian Bach.
Eins vorweg: Ich möchte Sie bekehren! Und ich möchte, dass Sie die Offenbarung lautstark vernehmen. Nein, nicht die aus Betlehem. Sondern die aus Leipzig, Weimar und Köthen. Darum hier etwas übers Branding. Und über Johann Sebastian Bach.
Vier Jahre ist es her, da hatte ich ein Erweckungserlebnis – über Weihnachten und während der faulen Tage. Was ich damals entdeckte: den Podcast des Pianisten Igor Levit und des Kulturjournalisten Anselm Cybinski – zuerst als reine Prokrastination auf gehobenem Niveau. Und dann voller Neugier.
Aus stillen Tagen wurden also zwei Wochen voller Pauken und Trompeten. Das war genial, denn eine neue Welt hat sich mir aufgetan. Eine Welt aus Motiven und Gegensätzen, aus Wiederholung und Variation, aus strenger Ordnung und ergreifender Emotion. Eine Welt, in der ein einziges Thema reicht, um einen Kosmos zu entfalten, und in der drei Töne genügen, um die Seele zum Klingen zu bringen.
Warum Musik kann, wovon Marken träumen
Das Faszinierende dabei: Nichts ist so ätherisch wie Musik – eine Kunstform, die nur existiert, wenn sie verschwindet. Und doch entfaltet sie eine enorme Wirkung: Weil sie nicht repräsentiert, sondern konstituiert, weil sie nicht argumentiert, sondern strukturiert. So ist Musik ein Ereignis, das Bedeutung stiftet, ohne je greifbar zu sein. Ein wahres Wunder, irgendwie. Und ein Vorbild für Marken vielleicht. Denn Musik ist das, was Marken gerne wären: Sie ist Wirkung ohne Erklärung. Und sie schafft Resonanz, ohne zu räsonieren.
Doch so ätherisch Musik auch ist: Was wie ein Wunder erscheint, ist kein Zufall, sondern Ergebnis einer konsequenten Gestaltung, zumindest bei Johann Sebastian Bach. Das Geniale bei ihm: die kunstvoll arrangierte Balance aus Ordnung und Freiheit. Dabei denkt Bach Ordnung und Freiheit nicht als Gegensätze, sondern als produktives Spannungsverhältnis, aus dem erst Wirkung entsteht. So wie in der Markenführung. Und im Leben allgemein.
Die Kunst des produktiven Spannungsverhältnisses
Das Prinzip dahinter ist erstaunlich simpel. Es braucht ein klares Thema, das Orientierung gibt. Und es braucht viele Stimmen, die dieses Thema aufnehmen – die ihm folgen, widersprechen, sich entfernen und wieder zurückkehren. Das Ergebnis: Vielfalt ohne Beliebigkeit.
Was so entsteht, ist kein starres System, sondern ein lebendiger Zusammenklang: Die Ordnung ist spürbar, ohne zu dominieren. Die Freiheit ist hörbar, ohne ins Chaos zu kippen. Anders gesagt: Bach zeigt, dass man nicht alles bis ins Letzte zementieren muss, um Halt zu geben. Oder, etwas äolisch-musikalisch formuliert:
Er zeigt, dass Zusammenhalt nicht auf Zwang basiert, sondern auf geteilten Strukturen.
Dass Vertrauen nicht auf Erklärungen beruht, sondern auf lebendiger Kohärenz.
Dass Stabilität keinen Starrsinn braucht, sondern gestalterische Flexibilität
Die Lektion für die Markenführung (und für die Lebensführung)? Starke Marken entstehen nicht durch kleinteiliges Nachjustieren einzelner Noten und fisseliges Micro-Management. Im Gegenteil: Sie entstehen durch einen konstanten Generalbass, der unten Orientierung gibt, während sich oben vieles ändern darf. Denn wenn der Generalbass stimmt, wird Flexibilität nicht zur Gefahr, sondern zur Stärke. Und wenn das Fundament nicht stimmt? Dann wird die Melodie eben zum wilden Gezupfe und die Musik zur reinen Kakophonie.
Etwas Johann für Jesus - und für die kommenden Festtage
Eigentlich ist nun alles gesagt und ich könnte Sie beschwingt dem Turntable überlassen: mit Bach als Tipp und dem Weihnachtsoratorium als Empfehlung. Doch so schön «Jauchzet frohlocket» auch ist – wenn ich Ihnen nur ein Werk von Bach unter das grüne Bäumchen legen dürfte, es wäre die Partita in d-Moll, die berühmte Chaconne. Denn dieses Stück zeigt, wie ein einziges Fundament genügt, um einen ganzen Kosmos an Variationen, Verdichtungen, Brüchen und stiller Intensität zu entfalten.
In diesem Sinne: "Jauchzet frohlocket” und wunderbare Festtage – egal ob mit Bach, Beethoven oder den Bee Gees.
Weil die Weihnachtstage ja lang sind, hier noch ein paar weitere Offenbarungen – als Verwöhnprogramm für Ihre Ohren, sozusagen. Und noch ein Bekenntnis hinterher: Ich glaube nicht an Gott. Aber falls es ihn gäbe, er wäre eine Kompostion von Johann Sebastian Bach!